Einführung
Es gibt im Bereich der Neurowissenschaften viele Hinweise darauf, dass unser Gehirn die Welt auf zwei sehr verschiedene Art und Weisen wahrnimmt, was das Resultat einer unterschiedlichen Funktionsweise der beiden Hirnhälften ist. Die linke Gehirnhälfte sieht die Welt als Ansammlung von einzelnen Objekte, die sie mit sprachlichem Bezeichnungen und einem angesammelten Wissen verknüpft. Das Erkennen von Objekten und das Wissen über ihren Gebrauch ist die Voraussetzung dafür, dass wir die Welt zu unseren Gunsten verändern können, angefangen von einfachem Ackerbau bis hin zu moderner Computertechnik. Die rechte Gehirnhälfte kann zwar auch Objekte unterscheiden, verfügt aber über kein ausgefeiltes Objektwissen, Dafür nimmt sie die Welt als größeren Ganzes wahr, in dem Beziehungen wichtiger sind als einzelne Dinge. Sie ist der linken Hirnhälfte zum Beispiel beim Erkennen von Gesichtern und in der Raumorientierung überlegen. Im Gegensatz zur linken Hirnhälfte, die die Welt durch die Brille des angesammelten Wissens wahrnimmt und dabei die Dinge abstrahiert, bleibt die Wahrnehmung der rechten Hirnhälfte näher an der sinnlichen Realität. Die rechte Hirnhälfte warnt uns zum Beispiel, wenn es eine bedeutsame Veränderung in der Umgebung gibt, auf die wir achten müssen.
Beide Arten der Wahrnehmung arbeiten parallel und sind zu unserem Überleben notwendig. In der Regel ist uns die fokussierte Form der Wahrnehmung bewusster, denn das Erkennen und Manipulieren der Welt steht meist im Vordergrund unserer Aufmerksamkeit. Als Kinder werden wir darauf trainiert, uns zu konzentrieren, d. h. über längere Zeit bewusst bei einer Sache zu bleiben, was die fokussierte Wahrnehmung fördert. Ein bewusster Umgang mit der unfokussierten Form der Wahrnehmung ist dagegen selten Teil der Erziehung, da uns ihr Nutzen nicht klar ist. Daher wissen viele Menschen nicht, wie sie bewusst von der fokussierten Wahrnehmung auf die unfokussierte Wahrnehmung umschalten können.
Im Aikido und in jeder anderen Kampfkunst ist die Fähigkeit, den gesamten Raum um sich herum wahrzunehmen und mehr als eine Sache auf einmal zu sehen, sehr wichtig. Wenn man einem potentiellen Angreifer gegenübersteht, muss man seinen ganzen Körper sehen, sonst kann man von einem plötzlichen Angriff der Füße überrascht werden, da man nur auf die Bewegung der Hände konzentriert war. Bei mehreren Personen gleichzeitig ist die Notwendigkeit einer umfassenden Wahrnehmung noch offensichtlicher. In beiden Fällen muss man nicht alles scharf wahrnehmen. Es reicht, wenn man eine Bewegung kommen sieht, um darauf reagieren zu können. Unfokussierte Wahrnehmung erkennt Dinge zwar nicht so präzise wie fokussierte Wahrnehmung, ist aber sehr empfindlich für Bewegungen und andere Veränderungen um einen herum und zudem schneller.
Außerhalb der Kampfkünste ist es ebenso wichtig, Zugang zu mehr als nur der fokussierten Wahrnehmung zu haben. Wenn man sein Leben verbessern will, ist eine gute Balance zwischen beiden Arten der Wahrnehmung notwendig. Zu viel fokussiertes Arbeiten kann Spannungen im Körper erzeugen und zu vegetativen Symptomen wie Kopfschmerzen führen. Wenn man in unfokussierter Wahrnehmung geübt ist, kann man sich in jedem Moment entspannen und schnell wieder ins Gleichgewicht kommen. Die ist jedoch nur einer von vielen Aspekten des Nutzens bewusster unfokussierter Wahrnehmung, das von körperlicher Gesundheit bis in spirituelle Dimensionen reicht.
Unfokussierte Wahrnehmung trainieren
Um mit der unfokussierter Wahrnehmung in Kontakt zu kommen, kann man jeden der Sinne als eine Art Tor benutzen. Dadurch werden auch die Sinne selbst geschult, was an sich schon eine gute Sache ist. Die drei wichtigsten Zugänge zur unfokussierten Wahrnehmung sind das Sehen, das Hören und das, was man als „Körpersinn“ bezeichnen kann, eine Mischung von Sinneseindrücken, die hauptsächlich von der Haut und den Muskeln herrühren, wie Berührung, Temperatur, oder Schmerz.
Die Augen haben von Natur aus ein scharfes zentrales und ein unscharfes peripheres Sichtfeld. Das zentrale Sichtfeld ist im Vergleich zum peripheren Sichtfeld klein, aber es ist der Ort, an dem sich der größte Teil unserer bewussten Aufmerksamkeit befindet. Um die unfokussierte Wahrnehmung über das Sehen zu entdecken, muss man auf den peripheren Teil des Sehens achten. Dazu entspannt man die Augen, bis man nicht nur das Zentrum des Sichtfelds, sondern das gesamte Sichtfeld bewusst wahrnimmt. Wenn man dies tun, wird man feststellen, dass sich die Wahrnehmung über das Sehen hinaus in alle Richtungen öffnet. Zu Beginn ist es einfacher, wenn sich die Augen dabei nicht bewegen. Dazu kann man entweder ein reales Objekt vor sich fixieren oder einen imaginären Punkt in der Mitte des Blickfeldes, z. B. an einer Wand oder am Horizont. Später kann man den Fokus frei wandern lassen, während man sich weiter der Peripherie bewusst ist, z.B. beim Üben von Aikido. Der Schlüssel zur Praxis des Defokussierens ist Entspannung. Anstatt sich auf etwas zu konzentrieren, lässt man die Anstrengung des Konzentrierens los. Dies geschieht ganz natürlich, wenn man nicht mehr daran interessiert ist, etwas ganz bestimmtes wahrzunehmen.
Das Hören ist von Natur aus offener und unfokussierter. Daher kann es für manche Menschen einfacher und entspannender Sein, das Gehör als Zugang zur unfokkussierten Wahrnehmung zu benutzen. Dazu schließt man einfach die Augen und lässt die Höreindrücke aus allen Richtungen zu sich kommen. Statt einzelnen Höreindrücken zu folgen, hört man alles gleichzeitig. Diese Übung ist besonders interessant in einer Umgebung mit vielen verschiedenen Geräuschquellen, wie zum Beispiel einer lauten Menschenansammlung. Wenn man alle Höreindrücke zusammen wahrnimmt, wird man alle Leute gleichzeitig hören. Wenn man allerdings genau verstehen will, was gesagt wird, muss man wieder in den fokussierten Modus wechseln.
Die Entwicklung der Körpersinne ist sehr wichtig für Aikido und für das emotionale Wohlbefinden. Auch diese Übung lässt sich am besten mit geschlossenen Augen durchführen. Wenn man sich ruhig hinsetzt, die Augen schließt und die Wahrnehmung auf den Körper richtet, nimmt man vielleicht zunächst nicht viel wahr. Dann aber tauchen vielfältige Empfindungen in der Wahrnehmung auf. Dies ist der innerer Lebensstrom, eine endlose Bewegung aller Arten von oft unklaren und zuweilen kurzlebigen Empfindungen mit ein paar erkennbaren Mustern dazwischen wie z.B. Schmerzen, Kribbeln oder ein Jucken. Statt einzelne Empfindung hervorzuheben, versucht man beim Üben bei der Gesamtheit des Wahrnehmungsstroms zu bleiben. Wenn einem dies gelingt, wird sich der Körper mit Hilfe der Wahrnehmung tief entspannen, was man unter Umständen als Wärme spüren kann. Dazu bedarf es jedoch einiger Übung, denn die Veränderung des Körpers ist ein langsamer Prozess. Am besten macht man diese Übung jeden Tag mehrmals, um zu lernen, die Wahrnehmung schnell umzuschalten. Dadurch bleibt man auch in Kontakt mit dem Körper, was wichtig ist, wenn man entspannt bleiben will.
Ein weiteres Tor zur unfokussierten Wahrnehmung ist die Vorstellungskraft. Die Vorstellungskraft ist eine grundlegende Fähigkeit des Geistes, und man kann man sie nutzen, um den Geist für die unfokussierte Wahrnehmung zu öffnen. Eine Form der Praxis heißt „toitzuho“ und „kokodaiho“, das Erweitern und Verkleinern des Wahrnehmungsraums. Um toitzuho zu machen, stellt man sich zuerst einen kugelförmigen Raum um den Körper herum vor, dann verdoppelt man den Durchmesser der Kugel mehrmals bis man an die Grenze der eigenen Vorstellungskraft gelangt. Danach lässt man die Bewegung eines sich ausdehnenden Raumes außerhalb der Vorstellung ins Unendliche weitergehen. Ähnlich verhält es sich bei kokodaiho: Man stellt sich zuerst einen kugelförmigen Raum um sich herum vor. Dann halbiert man den Durchmesser dieses Raums mehrmals zur eigenen Körpermitte hin und lässt diese Bewegung in einen unendlich kleinen Raum hinein verschwinden. Eine ausführlichere Beschreibung dieser Übungen kann man in dem Buch „Reise ins unbekannte Ich“ von Kenjiro Yoshigasaki nachlesen.
Diese Übungen helfen, den Geist innerhalb eines Augenblicks von seiner Fokussierung auf Inhalte zu befreien, denn mit etwas Übung kann man das Expandieren und Kontrahieren des mentalen Raums in weniger als einer Sekunde ausführen. Dabei sollte man jedoch daran denken, dass diese Übungen, wie auch alle anderen hier beschrieben Methoden, lediglich ein „Türöffner“ sind und nicht etwas, das man ständig tun sollte. Das Ziel ist es, in Kontakt mit der natürlichen offenen Wahrnehmung zu kommen, die schon immer da ist und nicht erst hergestellt werden muss.
Tipps zum Üben
Zu Beginn werden alle Übungen am besten im stabilen und bequemen Sitzen ausgeführt, denn ein aufrechter Körper erzeugt eine natürliche Wachheit, die einem hilft, nicht abzuschweifen. Letztendlich ist es aber egal, ob man sitzt, steht, liegt oder sich bewegt. Die Übung der unfokussierten Wahrnehmung kann in jeder Situation durchgeführt werden.
Wenn man nur an fokussierte Wahrnehmung gewöhnt ist, kann das Eintauchen in die unfokussierte Wahrnehmung zunächst als desorientierend empfunden werden. Vor allem, wenn man mit den vielen unklaren Empfindungen konfrontiert wird, die unser Körper hervorbringt. Daher verspürt man schnell den Drang, wieder klar Sehen, Hören oder Fühlen zu wollen, was einen zurück in die fokussierten Wahrnehmung bringt. Dieser Drang entspringt der linken Hemisphäre, die der Sitz des Wissens über die Welt ist. Die linke Hemisphäre möchte wahrnehmen, was ihr vetraut ist, denn das Bekannte gibt ihr ein Gefühl der Kontrolle. Das Problem ist, dass das Bekannte, und eigentlich jedes Wissen, aus unseren vergangenen Erfahrungen stammt. Um etwas Neues zu sehen, muss man seine etablierte Sichtweise beiseite legen und sich mit dem Unbekannten und noch Unklaren konfrontieren.
Wie bereits erwähnt, liegt der Schlüssel zu allen Übung in der Entspannung. Die unfokussierte Wahrnehmung ist in jedem Moment präsent. Alles, was man tun muss, ist sich dieser ständigen Wahrnehmungsweise bewusst zu werden. Mit etwas Übung kann man in einem Wimpernschlag in die bewusste unfokussierte Wahrnehmung wechseln und ohne Anstrengung eine ganze Weile in ihr verweilen.
Wenn man sich mit unfokussierter Wahrnehmung anfreunden kann, wird man nicht nur mehr wahrnehmen, sondern auch ein Gefühl der Ruhe entwickeln. Diese Gelassenheit ist nicht das Ergebnis der Abwesenheit von Störungen im Außen oder im Inneren, sondern ein Resultat der Art und Weise, wie man wahrnimmt. In der bewussten unfokussierten Wahrnehmung ist der Geist offener und weniger an das, was er wahrnimmt, gebunden. Diese Form des Geistes ist an sich ruhiger, da er die Gesamtheit der Erfahrung sieht, während der fokussierte Geist immer von einem Fokus zum nächsten springt. Es ist dieselbe Gelassenheit, die man erleben kann, wenn man etwas Schönes wahrnimmt. Stellen sie sich vor, sie stehen auf dem Gipfel eines Berges und „trinken“ die Landschaft und den großen Raum um sich herum mit allen Sinnen. Dann sind sie natürlicherweise entspannt und ruhig.
Unfokussierte und fokussierte Wahrnehmung stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänze sich und sind beide für das menschliche Leben notwendig. Das Problem ist das fehlende Gleichgewicht zwischen den beiden Formen der Wahrnehmung. Immer auf etwas konzentriert zu sein, wird immer mehr zum Credo unserer Gesellschaft. Daher wissen wir, wie man sich konzentriert, aber nicht, wie man sich defokussiert. Ein trainierter Geist kann schnell fokussieren und defokussieren. So kann man alle notwendigen Dinge tun, ohne den Blick für das Ganze zu verlieren.
KH 05/23