Der folgende Text basiert auf den Arbeiten von Iain McGilchrist, einem britischen Psychiater, der sich über mehr als 20 Jahre mit dem Thema des rechten und linken Hirnhälften und ihrer unterschiedlichen Art und Weisen, die Welt wahrzunehmen, beschäftigt hat. Leider ist sein Hauptwerk, „The Master and his Emissary“ bislang nicht auf Deutsch erschienen . Wer kein 400-seitiges Buch auf Englisch lesen will, findet auf Youtube eine ganze Menge von und über Iain McGilchrist.
Als Neuropsychologe bin ich immer wieder mit Patienten konfrontiert, die ausgeprägte Krankheitssymptome haben, selbst aber keine Einsicht in diese. Dieses Phänomen ist als Anosognosie bekannt, was Nichterkennen der eigenen Erkrankung bedeutet, und tritt häufig nach ausgedehnteren Schädigungen der rechten Hirnhemisphäre auf. Unser Gehirn besteht, wie sie vielleicht wissen, aus den tiefen Hirnstrukturen (Hirnstamm und Mittelhirn), den zwei Großhirnhemisphären und dem Kleinhirn, das ebenfalls zweigeteilt ist. Die linke Großhirnhemisphäre ist für die Motorik und Sensorik der rechten Körperseite zuständig und umgekehrt. Ansonsten sind jedoch beide Hemisphären weder bezüglich ihrer Anatomie noch bezogen auf ihre Funktionen symetrisch aufgebaut. So ist schon seit mehr als hundert Jahren bekannt, dass bei den meisten Menschen die linke Hemisphäre der Sitz der Sprache ist. Der rechten Hemisphäre wurde dagegen eine Überlegenheit bei visuellen und raumbezogenen Wahrnehmungsprozessen zugeschrieben. Allerdings wurde in den letzten Jahren immer klarer, dass der Hauptunterschied zwischen den Hemisphären weniger darin besteht, welche Art von Reizen sie verarbeiten, sondern vielmehr, wie sie es tun. Diese Erkenntnis gipfelten in Theorien über zwei grundsätzlich verschiedene Art und Weisen, wie beide Hemisphären die Welt wahrnehmen.
Für die linke Hemisphäre besteht die Welt aus Objekten und Kategorien, die über bestimmte Regeln miteinander in Verbindung stehen. Die Wahrnehmung der linken Hemisphäre ist fokusiert und selektiv. Sie kann immer nur eine kleinen Ausschnitt der Welt bewusst erkennen, dafür aber scharf und detailreich wie durch ein Vergrößerungsglas. Sie verfügt über einen riesigen Katalog an Wissen bezüglich der Objekte der Welt und ihrer logischen Beziehungen, was sie in die Lage versetzt, die Welt zu analysieren und nach ihren Vorstellungen zu manipulieren. Das Benutzen von Werkzeuge und die Sprache sind ihre Domäne. Mit Hilfe der Sprache vereinfacht sie die Welt und macht sie handhabbar. Diese Aktivität steht die meiste Zeit des Tages im Vordergrund unseres Bewusstseins. Wir sprechen mit uns selbst, analysieren, bewerten, formulieren Ziele und entwerfen Pläne. Können wir die Welt nach unseren Vorstellungen formen, sind wir glücklich. Treffen wir auf Widerstände, werden wir wütend. In Studien ist Wut und Ärger eindeutig mit der linken Hirnhälfte assoziiert.
Die Funktionsweise der rechten Hemisphäre ist schwerer zu beschreiben und zu verstehen. Man kann sagen, dass die rechte Hemisphäre die Welt ungefiltert in ihrer Ganzheit wahrnimmt. Ihre Wahrnehmung der Welt ist direkter, während die linke Hemisphäre die Welt abstrahiert durch ihr Wissen wahrnimmt. Wo die linke Hemisphäre isolierte Objekte erkennt, sieht die rechte Beziehungen. Sie behält den Überblick über das ganze und lokalisiert uns im Gefüge der Welt. Das Erfassen Gesichtsausdrücken, Körpersprache, Humor, Musik und soziale Beziehungen sind einige ihrer Domänen. Während die Wahrnehmung der linken Hemisphäre auf Wissen basiert, und damit auf in der Vergangenheit Erlerntes, kann sie das Neue sehen, Veränderungen wahrnehmen und ist damit entscheidend für Kreativität. Sie ist in Kontakt mit dem, was die linke Hemisphäre (noch) nicht weiß, mit dem Unbekannten und Ungewussten, und weist uns durch Intuitionen und bildhafte Einsichten darauf hin.
Was ist der evolutionäre Sinn der Zweiteilung des Gehirns? Warum nehmen wir die Welt in zwei so unterschiedlichen und letztlich nicht aufeinander reduzierbare Art und Weisen wahr? Die funktionelle Dualität des Gehirns ist keine rein menschliche Eigenschaft, sondern findet sich genau so im Tierreich, obwohl die Funktion der linke Hemisphäre beim Menschen sicherlich ihren Höhepunkt erreicht hat. Kein anderes Lebewesen kann die Welt so sehr abstrahieren und manipulieren wie der Mensch. Aber auch Tiere manipulieren ihre Welt bis zu einem gewissen Grad. Zum Beispiel muss auch ein Vogel, wie jedes andere Tier, Objekte vom Rest der Welt unterscheiden können: Samenkörner oder Würmer zum Fressen, lose Zweige zum Nestbau. Dazu braucht er eine fokussierte Wahrnehmung, um Dinge in der Umwelt zu finden und ein Wissen darüber, was essbar ist und was nicht. Beides ist die Domäne der linken Hemisphäre. Gleichzeitig ist ein Vogel auch selbst Beute, d.h. während er Teile der Umwelt nach relevanten Objekten absuchen, braucht er auch einen Überblick über das größere Ganze und muss auf eventuell gefährliche Veränderungen, in der Regel Bewegungen, rasch reagieren. Es macht also Sinn, ein vom fokussierten Suchverhalten komplett unabhängiges Wahrnehmungs- und Warnsystem zu besitzen, was rechtshemisphärisch verankert ist.
Auch den Menschen warnt und weckt die rechte Hemisphäre, wenn etwas ungewöhnliches und damit potentiell Gefährliches in unserer Umgebung geschieht. Wenn sie plötzlich ein lautes Geräusch hören, hemmt die rechte Hemisphäre sofort die Aktivität der Linken und wir orientieren den Körper und vor allem die Augen in Richtung der Veränderung, um schnell zu analysieren, was genau Ursache der Veränderung war. Sie erleben das im Extrem als Schreckreaktion, aber es ist ein Prozess, der in jeder Sekunde abläuft, selbst im Schlaf. Wenn sie allerdings von der Aktivität der linken Hemisphare absorbiert sind, wird diese Warnung unter Umständen nicht stattfinden, weil jetzt die linke Hemisphäre die Rechte hemmt, um störende Ablenkungen zu vermeiden. Wenn die rechte Hemisphäre nach einem Hirnschaden nicht mehr richtig funktioniert, können diese Warnungen ganz unterbleiben. Anomalien in der Welt, im Verhalten anderer Personen und auch bei sich selbst werden nicht mehr erkannt. Neues wird nur noch aus dem bekannten Wissen abgeleitet, aber nicht mehr in der realen Welt erkannt. Die linke Hemisphare ist darüber nicht unglücklich, denn sie lebt jetzt in ihrer eigene Welt, die von der rechten Hemisphäre nicht mehr in Frage gestellt wird. Entsprechend sind Patienten mit einer Anosognosie oft unbesorgt und überzeugt, dass mit ihnen alles in Ordnung ist, selbst wenn sie deutliche mentale Defizite oder selbst körperliche Lähmungen davongetragen haben. Damit konfrontiert, erklärt die linke Hemisphäre die Defizite mit einem in sich logischen, aber bezogen auf die Realität falschen Argument einfach weg. Das dies nicht lange gut geht, muss ich nicht weiter ausführen.
Es gibt Hirnforscher, die der Überzeugung sind, dass unsere westliche, auf Befriedigung durch Zielerreichung und Ansammlung von Objekten ausgerichtete Gesellschaft das Produkt einer überwertigen linken Hemisphäre ist. Verkürzt gesagt waren wir mit unserer Manipulation der Welt so erfolgreich, dass wir keine andere Weltsicht mehr gelten lassen und auch unsere Kinder so erziehen, dass sie vor allem linkshemisphärisch funktionieren. Das Problem ist, das die linke Hemisphäre kein tiefes Gefühl von Zufriedenheit kennt und das Glück, das sie aus der Manipulation der Welt bezieht, immer nur kurzlebig und irgendwie zu wenig ist. Ihre Lösung für den existentiellen Hunger nach Zufriedenheit ist das „Noch mehr“, den sie sieht die Welt als Ansammlung von Objekten, und mehr von etwas ist in dieser Sicht meist besser als weniger. Mehr Stimulation, mehr Konsum, mehr Veränderung. Eine wirkliche Befriedung verschafft uns das jedoch nicht. Das existentielle Glücksgefühl, das wir zum Beispiel in der Natur, durch Kunst oder in sozialen Beziehungen erleben können, basiert auf der Wahrnehmung der rechten Hemisphäre.
Damit soll nicht gesagt sein, dass die linke Hemisphäre die schlechtere der beiden ist. Ohne die linke Hemisphäre gäbe es unsere Zivilisation nicht, denn als Affen hätten wir es nie zum Ackerbau geschafft. Dazu war etwas evolutionär Neues notwendig: die Fähigkeit, die Zeit zu verstehen, vom gegenwärtigen Moment zu abstrahieren, zu planen und die Welt nach unseren Vorstellungen zu formen. Aber wir müssen verstehen, dass sich nicht alle Fragen der menschlichen Existenz durch linkshemisphärisches Denken lösen lassen. Die Frage nach dem Glück ist eine davon. Was wir brauchen ist – wie so oft – eine Balance. Wenn wir begreifen, wie wir tatsächlich funktionieren, kann uns das helfen, Irrwege vermeiden. Die linke Hemisphäre macht uns erfolgreich. Aber nur die rechte Seite macht uns komplett.
K. Heß 01/2022