Auf den Beinen zu stehen muss man als Mensch – im Gegensatz zu den meisten Tieren – mühsam und über viele Jahre erlernen. Dabei gibt es niemanden, der einem zeigt, wie es richtig geht. Zum Beispiel, wie man das Gewicht auf den Füßen richtig verteilt oder die Schultern optimal so positioniert, dass der Nacken entlastet wird. Körperhaltung ist kein Bestandteil der regulären Erziehung. Dieser Mangel an Körperkultur erklärt, warum viele Menschen eine schlechte Körperhaltung aufweisen, die ihnen langfristig schadet. Selbst Sportler sind davon nicht gefeit. Haltungsprobleme machen sich zwar vor allem im Alter unangenehm bemerkbar, aber schon in jungen Jahren haben viele Schwierigkeiten mit dem Rücken oder den Gelenken.
Eine gute Haltung hat nicht nur gesundheitliche Aspekte. Ein sicheres Auftreten ist auch davon abhängig, wie man körperlich präsent ist. Jeder Sänger weiß, wie wichtig die Körperhaltung für die Stimme ist. Schauspieler kommunizieren charakterliche Eingenschaften ihrer Figuren über Körperhaltungen. Anders als Gedanken ist die Körperhaltung für jeden sichtbar und bestimmt ganz erheblich den Eindruck, den man von einer Person gewinnt. Viele Menschen trauen daher dem körperlichen Ausdruck mehr als Worten.
Für Aikido – und letztlich jede andere Kampfkunst – ist eine richtige Körperhaltung unabdinglich, denn Haltung und Bewegung gehen ineinander über und bedingen sich gegenseitig. Genau wie eine gute Bewegung verlangt auch eine gute Haltung ein optimales Zusammenspiel der Muskeln , um den Körper in einem stabilen Gleichgewicht zu halten. Eine gute Haltung lässt sich definieren als die körperliche Form, in der die Muskeln dieses Gleichgewicht mit dem geringsten Aufwand erreichen können.
Einer der Aha-Momente für Anfänger im Ki-Aikido ist, das eine geringe Änderung der Gewichtsverteilung auf den Füßen zu einem völlig veränderten Stand führt, und der Körper einen Druck von außen, der ihn zuvor aus dem Gleichgewicht gebracht hat, jetzt ohne Mühe absorbiert. Erreicht wird dies durch eine simple Übung, die den Körper besser zur Schwerkraft hin ausrichtet, so dass die Haltemuskulatur optimal arbeiten kann. Durch einen simplen Drucktest vor und nach der Übung ist diese Veränderung direkt erlebbar. Dies gilt für das Sitzen genauso wie für das Stehen und jede andere Körperhaltung.
Mit weiterem Training lässt sich die Körperhaltung dauerhaft verbessern. Die Übungen, die das Ki-Aikido dazu anbietet, sind problemlos in den Alltag integrierbar. Selbst die Bushaltestelle oder die Schlange im Supermarkt kann so zur Übungsgelegenheit werden. Denn sich gut zu halten ist ein lebenslanger Prozess. Der Körper verändert sich und entsprechend muß sich die Haltung mit entwickeln. Das Altern muss dem nicht entgegenstehen: Den Körper richtig zu halten ist eine Fähigkeit, die im Alter besser ausgebildet sein kann als in der Jugend.
KH 2015/2021